Gedanken
sind real

von Prentice Mulford
Sofortdownload

Kapitel 2: Wer sind unsere Beziehungen?

Der Mensch, der Ihnen in seiner Denkweise, mit seinem Geschmack oder Vorlieben am ähnlichsten ist und zu dem Sie sich am meisten hingezogen fühlen, ist vielleicht nicht Ihr Bruder, Ihre Schwester, Ihre Cousine oder ein anderer Verwandter.

Aber dieser Mensch steht in einer sehr engen Beziehung zu Ihnen.

Ihre Geschwister können sich in ihrer geistigen Ausrichtung, ihren Neigungen oder geschmacklichen Präferenzen stark von Ihnen unterscheiden.

Sie pflegen zwar den Umgang mit Ihnen, weil sie alle Teil derselben Familie sind, wenn Sie aber nicht wüssten, dass dies Ihre Geschwister oder andere Angehörige sind, würden Sie mit diesen Personen vielleicht überhaupt keinen Kontakt haben.

Die körperliche oder "Blutsverwandtschaft" wirkt sich bei der wirklichen oder geistigen Beziehung nur sehr wenig aus. Zwar ist es durchaus möglich, dass Ihnen ein Elternteil geistig sehr nahesteht, es ist aber auch möglich, dass Ihr Vater, Ihre Mutter oder Ihre Geschwister geistig in ganz anderen Sphären leben als Sie.

Sie können nur dann gesund und angenehm leben, wenn andere, mit denen Sie zusammenleben, eine ähnlich geartete geistige Atmosphäre ausstrahlen.

Das kann in einer körperlichen Verwandschaft der Fall sein, es ist jedoch nicht zwangsläufig so.

Zwingen Sie einen Arbeiter, dessen Denken kaum über Essen, Trinken und sein Tagwerk hinausgeht, dazu, seine Zeit ausschließlich in einem Heim mit Künstlern und Philosophen zu verbringen und entziehen Sie ihm Seinesgleichen, und es wird nicht lange dauern, bis dieser Mensch deprimiert und sogar gesundheitlich angeschlagen sein wird.

Dasselbe gilt, wenn das weiterentwickelte Bewusstsein gezwungen wird, dauerhaft mit einem weniger entwickelten Bewusstsein zu verbringen. Dies könnte unter körperlich verwandten Menschen der Fall sein.

Kinder leben auf, wenn sie in der geistigen Atmosphäre ihrer Spielkameraden herumtollen. Trennen Sie sie davon ab und ihre Lebensfreude lässt drastisch nach.

Als Kind lebten Sie in dieser Atmosphäre der Kindheit. Sie lebten in der spirituellen Beziehung der Kindheit und es fand ein Austausch des Gebens und Nehmens einer spielerischen Umgebung statt. Vielleicht fragen Sie sich, warum Sie das alte Gefühl und die Begeisterung, welche in Ihrer Kindheit oder Jugend den gegenseitigen Umgang prägte, nicht wiederherstellen können?

Der Grund ist, dass Ihr Geist heute eine andere Nahrung oder Atmosphäre braucht, welche nur ein anderes und wahrscheinlich höher entwickeltes Bewusstsein zu geben vermag. In diesem Fall würde die Zeit wieder genauso schnell und angenehm vergehen, wie in Ihren früheren Lebensjahren.

Menschen, die dies bieten können, sind Ihre wahren Beziehungen. Solche Beziehungen können jedoch nur bestehen, wenn Sie Ihrerseits dieselbe gedankliche Qualität einbringen.

Die wahren oder spirituellen Beziehungen vieler Geschäftsleute, Mechaniker und anderer Berufstätiger sind häufig wieder Geschäftsleute, Mechaniker oder andere Berufskollegen.

Diese Leute leben das vor.

Sie fühlen sich unter ihresgleichen wohler als bei sich zuhause, wo sie häufig nur zum Essen und Schlafen zurückkehren und einen anstrengenden Sonntag verbringen und sehnsüchtig wieder auf den nächsten Montag warten, damit sie sich wieder in ihrem Element aufhalten können.

Dort sind sie inmitten ihrer wahren Beziehungen und werden von der gedanklichen Atmosphäre ihrer Seelenverwandten angeregt und tun dies auch ihrerseits.

Jede geistige Ordnung oder gedankliche Qualität muss mit einer ihr entsprechenden geistigen Beschaffenheit im Austausch stehen, andernfalls leidet sie. Die "Blutsverwandtschaft" hat damit wenig zu tun.

Es gibt viel unbewusste Tyrannei, die aufgrund der physischen Beziehungen ausgeübt wird. Größer werdende Kinder weisen ihren Eltern manchmal geistig eine Rolle zu, die diese nicht haben wollen.

Dann treten Gedanken der folgenden Art auf, auch wenn sie nur selten geäußert werden: "Meine Mutter wird zu alt für diese modischen Farben. Sie sollte sich dezenter kleiden."

"Es ist lächerlich, dass meine verwitwete Mutter nochmals vor den Traualtar treten will."
und manchmal stecken hinter solchen Gedankengängen auch harte finanzielle Erwägungen.

"Für unsere Mutter ist das Herumreisen nichts mehr. Es ist besser, wenn sie zu Hause bleibt und auf die Enkel aufpasst" oder "Vater sollte sich endlich zur Ruhe setzen" oder "Jetzt kommt Vater auf seine alten Tage auf die Idee, nochmals auf Freiersfüße zu gehen. Das ist doch absurd."

Keine Kraft wirkt subtiler und bringt Gutes oder Schlechtes herbei, als die stetige gedankliche Bombardierung eines Menschen durch ein oder mehrere Bewusstseine auf ein bestimmtes Ziel hin, und unabhängig davon, ob dies intelligent und bewusst oder blindlings getan wird, ist das Ergebnis doch immer dasselbe.

Ein stetiges Zufließen von Gedanken von, sagen wir, drei oder vier Bewusstseinen, denen "Mutter" als Instrument für neue Körper diente und welche direkt auf "Mutter" ausgerichtet sind, ist eine sehr mächtige Kraft, um sie dort zu behalten, wo die Kinder sie haben wollen.

Dieser Gedankenfluss kommt auch im Tarnkleid der Hilfestellung einher: "Mutter muss jetzt etwas langsamer tun und sollte sich in ein Eckchen des Haushalts zurückziehen, um sich um ihre bedürftigen Eltern zu kümmern."

Diese geistige Einwirkung führt vielfach dazu, dass viele Mütter ihre menschlichen Vorrechte verlieren und letztendlich das tun, was die Kinder von ihnen wünschen.

Vielleicht taucht hier die Frage auf: "Aber soll ich denn nicht zu meiner Mutter oder anderen Verwandten gehen, wenn mich etwas plagt und ich Hilfe brauche, so wie ich dies immer schon getan habe? Sollen sich Familienangehörige denn nicht gegenseitig beistehen?"

Wenn der oder die betreffende Verwandte dies gerne tut, dann sicherlich.

Wenn die Hilfeleistung aus dem Herzen kommt und nicht durch ein Gefühl auferzwungen wird, weil sich der oder die Andere als Bruder, Sohn oder sonstiger Verwandter dazu verpflichtet fühlt, dann ist ein solcher Beistand sehr willkommen.

Vieles wird unbewusst verlangt, und es wird nicht darum gebeten. Den Verwandten werden große Lasten aufgebürdet, nur weil sie Verwandte sind.

Man erwartet sich finanzielle Zuwendungen, Nahrung, Unterkunft oder sonstige Hilfen, wenn sie von anderer Seite nicht zu erhalten sind.

Von Verwandten wird Gastfreundschaft erwartet, wo dieses Wort doch bereits fehl am Platze ist, wenn diese Gastfreundschaft nicht aus freien Stücken angeboten wird. Auch Geschenke werden von Verwandten erwartet und verkümmern dadurch zu einer Erpressung.

Wahre Geschenke sind immer Überraschungen!

Eine Überraschung wird von niemandem erwartet, denn die Erwartung macht die Überraschung zunichte. Verwandte besuchen andere Verwandte und machen es sich bei ihnen heimisch, nur weil sie miteinander verwandt sind, aber hintenherum wird viel gemurrt, wenn sich Verwandte die Unterkunftskosten sparen wollen.

Ein Geschenk, das nicht vom Herzen kommt, bringt auf Dauer nichts Gutes und keine wahre Freude mit sich.

Denn mit dem materiellen Geschenk, dem Essen, der Unterkunft, dem Darlehen, geht noch etwas Unsichtbares und wenig Bekanntes einher, das noch wichtiger ist als die eigentliche Gestalt.

Diese "Etwas" ist der damit verbundene Gedanke. Dieser Gedanke wirkt sich im Guten wie im Schlechten auf den Beschenkten aus. Wenn Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten einem bedürftigen Menschen auch nur eine sehr bescheidene Summe geben, diese Gabe jedoch von dem aufrichtigen Wunsch begleitet ist, dieser Person zu helfen, dann geben Sie zusätzlich ein Gedankenelement mit, das den Beschenkten nie verlassen wird und ihm auf alle Zeiten anteilig zur Qualität und Macht Ihres Gedanken Gutes bringt.

Sie tun dann wesentlich mehr als nur seine physische Notwendigkeit zu lindern. Sie geben ihm auch eine gewisse Menge an spiritueller Macht mit. Sie wünschen sich, dass seine Fähigkeiten so weit verbessert werden mögen, dass er die Bettelei nicht mehr nötig hat und geben ihm etwas Gutes von dieser Erde ab, wodurch sie ihm einen großen Dienst erweisen.

Sie haben ihm einen Gedankensamen eingepflanzt, der zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrer realen oder spirituellen Existenz Wurzel fassen und Frucht bringen wird.

Wenn Sie aber missmutig und mürrisch geben, wenn Sie Speisen, Unterkunft, Kleidung, Geld oder etwas anderes nur geben, weil sie von den Umständen dazu gezwungen werden, oder weil Sie befürchten, dass die Leute andernfalls schlecht über Sie reden würden, dann bewirkt Ihr Geschenk nur wenig Gutes, egal, wem Sie es geben, selbst dann nicht, wenn es sich bei den Beschenkten um Ihre Eltern, Geschwister oder Nachkommen handeln sollte!

Dann lindern Sie lediglich ein körperliches Bedürfnis, und auch das nur eine gewisse Zeitlang. Sie geben vielleicht Nahrung, Unterkunft oder Kleidung, aber dem Geist geben Sie nichts, solange der Gedanke, der Ihre Gabe begleitet, nicht auch von der Bereitschaft getragen, wirklich Gutes zu tun.

Der mit Ihrer Gabe einher gehende Gedanke des Widerwilles, dieser so weit verbreitete Gedanke, wenn der Empfänger der Gabe (unabhängig von der Beziehung) nur geduldet und nicht gerne gesehen ist, und wenn nur gegeben wird, weil es so Brauch ist oder weil es die öffentliche Meinung verlangt, richtet sowohl beim Schenker wie beim Beschenkten großen Schaden an.

Sie senden dem Empfänger dann einen Gedankenstrom, der seinem Wesen nach und auch in seiner Wirkung schlecht ist. Vom Beschenkten werden Sie dann sozusagen mit gleicher Münze bezahlt und erhalten ebenfalls wieder schädliches Gedankengut zurück. Denn wenn Sie ein nicht frohen Herzens gegebenes Geschenk erhalten, ist Ihr Gefühl für den Schenker nicht von warmer und aufrichter Dankbarkeit, sondern von etwas ganz anderem, geprägt.

Als Jesus die arme Witwe lobte, die zwei kleine Münzen in den Opferkasten warf, tat er dies nicht nur, weil sie gemessen an ihren Mitteln mehr gab als die anwesenden Reichen, sondern weil er bemerkte, dass ihr Denken auf wahre Hilfe ausgerichtet war und ihre bescheidene Gabe aus dem Herzen kam, während die der Reichen von niedrigeren Beweggründen geprägt war.

Er sah auch, dass die Gedanken der Frau mehr Gutes bewirkten als die der anderen, denn diese Gedanken waren reiner und deshalb stärker.

"Ist es denn nicht meine Pflicht, einen nahen Verwandten, der alt oder hilflos ist, zu ernähren und zu beherbergen?" Das ist die Frage, die Sie sich jetzt vielleicht stellen.

"Pflichtgemäßes Handeln" beinhaltet nicht zwangsläufig, dass dem geholfenen Menschen Hilfe aus einer Haltung der Liebe geleistet würde.

Manchmal wird diese Unterstützung mechanisch oder widerwillig gewährt.

Manchmal wird sie auferzwungen. Das führt dazu, dass nur wenig Gutes bewirkt wird. Zwar werden die körperlichen Bedürfnisse zeitweilig gestillt, die spirituellen jedoch nicht. Solange aber der spirituelle Anteil unseres Wesens keine Nahrung erhält, kann es keine dauerhafte Linderung geben und es fehlt auch der körperlichen Seite etwas Wesentliches.

Eltern, die im hohen Alter nur aus einem Pflichtbewusstsein heraus von ihren Kindern versorgt werden, müssen häufig geistige Verletzungen hinnehmen und hungern seelisch aus. Sie erhalten von ihren Kindern keine wahre Liebe.

Unerwünschte Kinder, die nur deshalb auf der Welt sind, weil es so Brauch ist, oder weil es die Konvention verlangt, haben ein schweres Los und leiden unter der seelischen Aushungerung.

Liebe, die aus dem Herzen kommt, ist wahrlich lebensspendend, und wenn das Kind eine solche Liebe erfährt, ist es eine Quelle für Freude, Gesundheit, Stärke und Aktivität.

Es gibt ein anerzogenes Gewissen, dessen Grundlage die Angst vor der öffentlichen oder privaten Meinung ist. Das ist nicht selten der Boden, auf dem "pflichtbewusstes Handeln" wächst.

Wenn sich die öffentliche Meinung unverhofft ändern würde und die Person, die einen alten oder pflegebedürftigen Menschen nur aus einem Pflichtgefühl heraus versorgt, davon ausgehen könnte, dass sie unzenziert davon käme, so würde der angeblich liebevoll umsorgte Verwandte wahrscheinlich im Armenhaus landen und die Tochter oder der Sohn würden ihr wahres Wesen zeigen.

Man kann manchmal von Müttern hören "Es ist egal, was aus mir wird. Hauptsache meinen Kindern geht es gut."
Eine Mutter sollte sich sehr um ihre eigene Weiterentwicklung kümmern. Wenn sie sich selbst vernachlässigt, wird sich das wahrscheinlich auch bei ihren Kindern bemerkbar machen.

Eine Mutter sollte von ihren Kindern bewundert, geachtet und geliebt werden. Eine solche Bewunderung und Achtung kann nur eine Frau erfahren, die mit beiden Beinen auf der Erde steht, die etwas aus sich gemacht hat und etwas bewegt.

Die Mutter, die sich mit einer Mischrolle aus Krankenschwester und Haushaltsgouvernante begnügt, die ihr Äußerliches vernachlässigt und für eingebildete oder echte Notfälle als Ersatzfeuerwehrfrau agiert, kann diese Bewunderung von ihren Kindern nicht erwarten.

Viele Mütter werden deshalb von ihren eigenen erwachsenen Kindern angeschnauzt oder ignoriert. Wenn sich Mütter so weit erniedrigen, dass sie nur noch Handlanger ihrer Kinder sind, zahlen sie einen hohen Preis.

Wenn Sie es zulassen, dass Ihr Wille ständig übergangen wird, dass Sie Ihre eigenen Präferenz und Neigungen aufgeben und zum Echo der anderen verkommen, wenn Sie nur noch nach der Pfeife der anderen tanzen, verlieren Sie immer mehr an Boden und Durchsetzungskraft. Dann nehmen Sie immer mehr vom Bewusstsein der anderen auf und handeln immer mehr im Einklang mit den unausgesprochenen Gedanken der anderen. Sie werden zum Fossil und versinken in eine hoffnungslose Andienerschaft. Darüber hinaus büßen Sie immer mehr physische und mentale Kraft ein und entwickeln sich zu einem senilen Vater, zu einer hilflosen alten Frau, und werden nur noch geduldet, nicht aber wirklich geliebt.

In vielen Fällen war dies die Wirkung der Bewusstseine erwachsener Kinder auf ihre Eltern.

Die stillen und ständig auf den Elternteil einwirkenden Kräfte dieser Bewusstseine tragen dazu bei, dass bei dieser Mutter oder diesem Vater ein physischer Zusammenbruch erfolgt, dass Tatterigkeit und geistige Schwäche - vielfach auf das "fortgeschrittene Alter" geschoben - teilweise auf die schädliche Wirkung eines Bewusstseins (oder auch mehrerer) zurückzuführen sind, welches danach trachtet, ein anderes zu übertölpeln.

Dieser Schaden wird unbewusst angerichtet.

Der Sohn will den Bauernhof bewirtschaften. Er hat vielleicht einen starken Willen. Schritt für Schritt erweitert er seinen Einfluß und betrachtet als sein Recht, was er früher nur mit Vaters Erlaubnis tun durfte.

Er setzt sich durch, vielleicht auch unterstützt von anderen Geschwistern, die alle ihre stille Kraft in derselben Richtung einsetzen.

Dadurch kann eine Kräfteverbindung entstehen, der der Einzelne, gegen den sie gerichtet ist, beinahe nicht mehr widerstehen kann. Es ist ein stetiger und unaufhörlicher Druck.

Dieser Druck wirkt Tag und Nacht. Er wirkt umso nachhaltiger, als der Elternteil, der ihm ausgesetzt ist, von dieser auf ihn einwirkenden Kraft nicht die geringste Ahnung hat.

Dieser Elternteil wird immer schwächer. Er wird passiv. Die frühere Tatkraft ist verschwunden und er hält es für unausweichliche Alterserscheinungen.

Ich kannte einen über siebzig Jahre alten Mann, der gesund, aktiv und kräftig war. Geistig und körperlich konnte er gut mit einem Vierzigjährigen mithalten. Er hatte eine großes Geschäft aufgebaut.

Seine Kinder setzen es sich in den Kopf, dass es an der Zeit sei, dass sich Vater zurückziehen sollte. Dieser manchmal ausgesprochene, manchmal unausgesprochene Gedanke wirkte Monat für Monat auf den Vater ein und verlangte von ihm, dass er sich aus dem aktiven Geschäftsleben zurückziehen solle.

Im vertraulichen Gespräch mit einem Freud äußerte sich: "Warum soll ich mich denn zurückziehen? Mir gefällt dieser Beruf, und wie ich sehe, habe ich immer noch alles gut im Griff".

Doch der ständige Druck, der von seinen Feinden in Gestalt seiner eigenen Kinder auf ihn ausgeübt wurde, war mit der Zeit schlichtweg zu groß. Also zog er sich zurück. Seine Söhne und Töchter waren zufrieden. Doch es dauerte nicht lange, bis den Vater gesundheitliche Probleme plagten.

Er lebte noch etwa zwei Jahre. Eine seiner letzten Bemerkungen war: "Meine Kinder haben mich umgebracht!"

"Soll ich denn meine Kinder nicht über alles lieben?"
fragen Sie jetzt vielleicht?

Das Wörtchen "soll" hat bei der Liebe nichts verloren. Die Liebe fällt dorthin, wo sie will, zu wem sie will und von wem sie angezogen wird.

Sie können sich nicht dazu zwingen, etwas oder jemanden zu lieben. Es gab Eltern, die keine wahre Liebe für ihre Kinder empfanden und Kinder, die keine wahre Liebe für ihre Eltern hatten.

Das ist keiner Seite vorzuwerfen. Es fehlte ihnen an der Fähigkeit zur Liebe. Sie kamen mit diesem Mangel auf die Welt. Der Vorwurf trifft sie nicht stärker als jemanden, der blind oder taub auf die Welt kommt.

Manche Eltern täuschen die Liebe zu ihren Kindern vor, doch in Wirklichkeit kennen sie sie nicht. Ein Vater, der seine Beherrschung verliert und seinen Sohn verhaut, liebt ihn nicht wirklich.

Auch im Kreise der Familie sind Regeln notwendig, doch diese dürfen nicht auf Wut oder Unbeherrschtheit beruhen.

Manchmal beeinflussen Eltern die Zukunft ihrer Kinder, indem sie bei der Berufswahl sehr aktiv mitsprechen. Vielleicht haben die Eltern Vorurteile gegen gewisse Laufbahnen, die das Kind gerne einschlagen würde. Und so trifft es auf erbitterten Widerstand bei seinen Eltern.

Diese Angelegenheit wird nicht vernünftig besprochen oder durchdacht. Die Antwort ist ein unabrückbares "Nein!".

Solche Gefühle und Verhaltensweisen beruhen nicht auf einer Liebe zu ihrem Kind . Sie wurzeln in der Liebe der Eltern zu ihrer eigenen Meinung und sind ein Zeichen der Tyrannei.

Manchmal vergessen Eltern, dass das Kind nach der völligen physischen und geistigen Hilflosigkeit während der Kindheit nun immer mehr ein Individuum wird. Als solches hat es einen eigenen Geschmack, eigene Vorlieben und Neigungen.

Diese individuelle Geschmacksausrichtung oder Neigung kann von keinen Eltern gebrochen oder verändert werden. Niemand kann das Bewusstsein eines Kindes in eine andere Richtung biegen.

Denn das Bewusstsein des Kindes ist ein Bewusstsein oder Geist, der bereits andere physische Leben von der Kindheit bis zur Reife oder gar bis zu einem hohen Alter durchlebt hat, und wenn es einen neuen Körper erhält, erlangt es eine relative Kontrole über diesen Körper und fängt an, als Mann oder Frau zu agieren, wie es dies auch bereits in seinem früheren Leben getan hat. Das kann sehr ähnlich wie bei den Eltern, oder auch völlig anders, aussehen.

Wie dem auch sei, haben es die Eltern mit einem Individuum zu tun, das immer mehr seine eigenen Wesenszüge, Eigenschaften, Vorlieben und Neigungen entwickelt.

Diese müssen zum Ausdruck gelangen!

Geistig werden sie auf jeden Fall zum Ausdruck gelangen, auch wenn ihnen dies auf der physischen Ebenen nicht gestattet ist. Falls der Junge zum Meer gehen will und ihm die Eltern dies verbieten, geht der Junge eben in seinen Gedanken zum Meer hinunter. Wenn er schon gedanklich tut, ist es besser, wenn ihm auch sein Körper folgt, da immer ein Schaden entsteht, wenn Geist und Körper nicht zusammenarbeiten.

Falls die Mutter dem Jungen verbietet, zum Meer hinunterzugehen, weil sie befürchtet, dass es dort für ihn zu gefährlich sei, ist sie in ihre eigenen Ängste mehr verliebt als sie ihren Sohn liebt.

Manchmal setzen sich die Eltern völlig über das Kind hinweg - zwar nicht über seinen Körper, aber über seinen Geist. Die Vorlieben, Neigungen und Wünsche des Kindes gelten als völlig unerheblich.

Wenn der Junge Seemann werden will und seine Eltern andere Pläne für ihn haben, können die Eltern dies wahrscheinlich durchsetzen. Doch wird der Junge bei dieser anderen Tätigkeit auch wirklich erfolgreich und glücklich sein?

Die Antwort finden wir beim großen Heer der Mittelmäßigen im ganzen Lande.

Ein Sohn wendet sich der Flasche zu oder kommt in schlechte Gesellschaft und gelangt auf die schiefe Bahn. Die Eltern machen sich Vorwürfe, weil sie sich nicht mehr um ihren Jungen gekümmert haben.

Die Mutter wirft sich vielleicht vor, dass sie aufgrund ihrer Nachlässigkeit selbst die Ursache der Missetaten ihres Jungen gewesen sei.

Doch gnädige Frau, Sie gehen viel zu hart mit sich ins Gericht! Den Charakter hat Ihr Sohn oder Ihre Tochter nicht Ihnen zu verdanken. Der Charakter war bereits vorhanden, als der Geist den letzten neuen Körper Ihres Kindes in Besitz nahm.

Die Eigenschaften, Unzulänglichkeiten und Fehler, die im letzten Erdendasein vorherrschend waren, setzen sich auch im nächsten durch. Wenn Stehlen und Betrügen vorher im Geist angelegt waren, werden sich diese Tendenzen auch jetzt wieder zeigen.

Wenn Ihr Kind einen groben, ungeschlachteten und schlemmerhaften Charakter hatte, werden sich diese Züge auch jetzt wieder Ausdruck verschaffen. Sofern Sie selbst ein edleres Gedankengut besitzen, können Sie durchaus viel dazu beitragen, diese Tendenzen etwas abzuwächen, dies geschieht jedoch durch die stille Kraft und das stille Wirken Ihres weiterentwickelten Denkens auf das Bewusstsein Ihres Kindes.

Es wird nicht durch mündliche Ermahnungen oder körperliche Züchtigung oder Disziplin geschehen! Was sich zum Zeitpunkt einer neuen physischen Existenz in einem Bewusstsein befindet, und dazu gehören auch die Unzulänglichkeiten, muss sich zeigen und muss durchlebt und durchlitten werden, bis dieses Bewusstsein aufgrund seiner Fehler deutlich selbst erkennen kann, dass es sich die entsprechenden Konsequenzen zugezogen hat!

Diese Lektionen können nur dann gelernt werden, wenn der betreffende Mensch die völlige Freiheit hat, so zu leben, wie es ihm beliebt, soweit die elterliche Obhut betroffen ist.

Sie können auf ein solches Leben eine Zeitlang durchaus Kontrolle ausüben und es beeinflußen, doch ein solchermaßen extern gelebtes Leben ist nur die Glasur und im Bewusstsein selbst sind nach wie vor die niedrigeren Ausrichtungen und Neigungen vorhanden. Je eher diese ausgelebt werden, umso rascher wird dieser Mensch das wahre Gesetz kennen lernen, das ihm Leid und Bestrafungen zufügt, weil er unabänderliche Gesetzmäßigkeiten verletzt hat, und je umso rascher wird er das Glück kennen lernen, das nur der kennt, der im Einklang mit diesen Gesetzmäßigkeiten lebt.

Das muss ein jedes Bewusstsein für sich selbst tun!

Ein Elternteil kann für ein Kind einen falschen Charakter herausbilden. Der Vater oder die Mutter kann dem Kind indirekt, aufgrund seines geistigen Einwirkens auf das Kind, vermitteln, wie man das, was gemeinhein als "gut" bezeichnet wird, vortäuscht und sich nach außen so verhält. Kurzum, die Eltern können das Kind zu einem Heuchler erziehen.

Im Grunde wird jedoch kein Mensch durch einen anderen umerzogen.

Die Umerziehung muss von innen heraus kommen und sich selbst tragen.

Sie darf nicht ausschließlich von der Anwesenheit oder vom Einfluß anderer Menschen abhängen. In diesem Fall wäre die Umerziehung sehr mangelhaft und zeitlich beschränkt. Sobald die Anwesenheit oder der Einfluß der anderen Menschen nicht mehr gegeben sind, würde es zu einem Rückfall kommen.

Manchmal können wir Aussagen folgenden Stils hören: "Die Frau hat aus ihm (dem Mann) dies und das gemacht!"
Umgekehrt hören wir das im übrigen so gut wie nie.

Es ist durchaus möglich, einem Mann sein zügellosen Leben zu verwehren oder ihn aufgrund des Einflusses und der Macht unter der Fuchtel von Madame zu halten, doch wenn dies einzig und allein ihr Werk ist, wird dann, wenn er ihrer ständigen Anwesenheit und Einflußnahme nicht mehr ausgesetzt ist, sein wahrer Charakter wieder durchbrechen, und er hatte sich nicht wirklich geändert. Darüber hinaus ist er für sie eine ständige Last und Bürde.

Wenn ein Mensch die Last von zweien zu tragen hat, ist das Ganze eine einseitige Angelegenheit und letztendlich wird die Frau unter einer solchen Last zusammenbrechen und das Endergebnis sind zwei gescheiterte Existenzen, statt nur einer einzigen.

Kein Mensch kann einen anderen "formen", zumindest nicht im höchsten Sinne. Ein Mensch mit einem weiterentwickelten Bewusstsein kann jedoch, wenn er mit dem schwächeren Bewusstsein in einer sehr engen und langjährigen Beziehung steht, diesem vorübergehend sein Leben und seine Kraft vermitteln, wenn es der Wunsch des Stärkeren ist, dem Schwächeren wirklich helfen zu wollen.

Falls der Mann diese Unterstützung von seiner Frau erhält und diesbezüglich von der Frau abhängig ist, lebt er nicht seinen eigenen Charakter aus.

Er repräsentiert vorübergehend den Charakter der Frau und stellt diesen sozusagen zur Schau, soweit ihm dies möglich ist.

Falls sie verstirbt oder anderweitig von seiner Seite weicht, fällt er wieder in sein früheres Muster zurück, es sei denn, er findet jemanden anderen, der ihm wieder Kraft borgt.

Wenn sie ihn unterstützt, wirkt sie nur als zeitweilige Krücke für seinen Charakter. Dies kann nicht von Dauer sein und wird spätestens dann enden, wenn die Quelle entzogen wird; darüber hinaus ist es für sie eine sehr anstregende Angelegenheit.

Eltern vermitteln ihren Kindern oft unbewusst, dass sich die Kinder auf sie verlassen könnten, dass sie mit moralischer Unterstützung rechnen könnten.

Das Ergebnis ist, dass sich das Leben der Elten erschöpft und dass sie sich eine allzu schwere Last aufbürden. Das Kind wird dann keine echte Liebe mehr für seine Eltern empfinden. Man kann etwas Schwaches und Verwelktes bedauern oder bemitleiden, lieben kann man es nicht.

Liebe beruht auf Bewunderung und Bewunderung wird nicht durch Schwäche und Nachlässigkeit ausgelöst.

Die Tendenz, welche wir Instinkt nennen, und welche die Vogelmutter veranlasst, ihre Jungen aus dem Netz zu stoßen, sobald sie flügge sind, damit sie sich selbst überlassen bleiben, finden wir auch bei den universellen Gesetzmäßigkeiten wieder.

Wir Menschen halten dies für "brutal".

Aber wäre es für die Vögelchen besser, wenn sie im Nest verblieben, wo sie keine Stärke entwickeln können und wo sie, wenn nach ein paar Wochen, die Stürme und das harte Wetter kommen, die selbst den ausgewachsenen Vögeln zu schaffen machen, nicht bestehen könnten?

Der Elternteil, sei es ein Vogel, ein anderes Tier oder eine menschliche Mutter, braucht nach diesen Zeiten des Ausbrütens, Gebährens und Aufziehens eine Saison der Ruhe und Erholung, und die Dauer dieser Ruhezeit sollte sich in einem angemessenen Verhältnis zur Komplexität des Unterfangens richten.

In solchen Zeiten sollte die Mutter von den Bedürfnissen und Ansprüchen des Kindes frei sein.

Vögel und andere Wildtiere nehmen sich solche Ruhezeiten. Doch tausende menschlicher Mütter sind niemals frei von den Anforderungen ihrer Kinder, bis sie am Ende ihrer Tage verbraucht und erschöpft sind.

Sie sollten aber von ihren Kindern frei sein, so wie sie als Mädchen frei waren, bevor sie Mütter waren. Die Mutterschaft ist eine wichtige Phase des Heranreifens und Ausbildens von Eigenschaften, doch keine Erfahrung sollte ein Leben lang anhalten. Das Leben ist voller Veränderung, kein festbetonierter Graben, der kein Ausweichen gestattet.

Wenn Menschenkinder noch Jahre ihres Erwachsenenlebens bei ihrer Mutter bleiben, wenn ihnen Hilfe, Rat und Mitgefühl förmlich aufgedrängt werden, wenn die Mutter die ständige Auflaufstelle ist, besteht die Gefahr, dass sie einseitig zu viel gibt und nichts zurück erhält.

Sie wägt sich dann in einem falschen Gefühl der Mutterschaft, das ihr zu viel abverlangt.

Sie beraubt sich eines neuen Lebens, das auf sie wartet, sobald die "Brut flügge ist".

Und sie hilft ihren Kindern dabei, aus ihr eine schwache und hilflose "alte Frau" zu machen.

Nun mag man einwenden: "Wenn man Ihren Ratschlägen folgen würde, wären die Straßen voller Kinder, die aus ihren Elternhäusern geworfen wurden und sich selbst überlassen blieben."

Ich plädiere keineswegs dafür, dem Beispiel der Vögel und Wildtiere blindlings zu folgen. Das wäre eine große Ungerechtigkeit. Kein Brauch, auch wenn er auf Fehlern beruht, kann von heute auf morgen geändert werden, ohne dass es Störungen, Ungerechtigkeiten und Probleme gäbe.

Dennoch tun wir gut daran, das uns von der Natur vorgemachte Prinzip zu studieren. Dieses Prinzip zeigt sich am Baum, der die reife Eichel abwirft, am Vogel und am wildlebenden Tier, der die Jungen sich selbst überlässt.

Weder die abgeworfene Eichel noch das junge Wildtier kehren jemals wieder zu ihrem Stamm oder ihren Eltern zurück, um sich dort Unterhalt zu holen.

Es wird immer nur solange Unterstützung gewährt, bis der Nachwachs stark genug ist, um aus der Erde und der Luft, dem Fleisch oder Korn, selbst die Nahrung zu beziehen.

Sind unsere Straßen denn heute nicht voll von erwachsenen Kindern, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen? Verlassen nicht jedes Jahr Tausende ihre Elternhäuser, ohne sich selbst am Leben halten zu können? Diese jungen Menschen können sich weder Nahrung, noch Kleidung noch Unterkunft selbst verdienen, und wenn doch, dann nur, indem sie sich viele Stunden bei Mindestlöhnen abplagen müssen.

Eine solche Schinderei erschöpft. Abertausende von Töchtern überall im Lande werden "alte Jungfern" und ihre Eltern gestatten ihnen nicht, in die Welt hinaus zu gehen und ihre Chance zu ergreifen.

Das sind die verhätschelten Jungvögel, denen eine eigene Existenz verwehrt wird; sie verlieren ihre Eigenständigkeit und müssen sich mit Almosen begnügen.

Zu Kapitel 3